Entlang der Straße spaziert ein Handwerker in traditioneller Kluft. In seiner Hand ein Wanderstock. Gepäck hat er kaum. Sein Weg ist lang, das Ziel oft ungewiss. Die Walz, eine jahrhundertealte Tradition, war einst Pflicht. Heute nehmen nur wenige Handwerker die Entbehrungen der Wanderschaft auf sich.
Die Pflicht zur Tippelei
Ab etwa dem 15. Jahrhundert gingen Handwerksgesellen auf Wanderschaft. Sie gehörten mit Abstand zur größten Gruppe der Reisenden dieser Zeit. Denn in vielen Zünften (Handwerksvereinigungen) war die Walz, auch Wanderschaft oder Tippelei genannt, Pflicht – vor allem, für künftige Meister. Drei Jahre lang wanderten sie von Ort zu Ort, um bei anderen Mitgliedern der Zunft neue Arbeitsweisen kennenzulernen. Erst mit Beginn der Industrialisierung ließ die Tippelei der Handwerksbrüder nach. Die Arbeitsweisen wurden ähnlicher, das Reisen und die Informationsbeschaffung leichter. Nach der deutschen Wiedervereinigung erfuhr die alte Tradition durch ostdeutsche Handwerker einen Aufschwung. Heute ist die Tippelei eine Seltenheit. Nur vereinzelt wagen Gesellen das große Abenteuer.
Die Regeln der Walz
Wer sich auf die Walz begibt, gehört fast immer einer Zunft, auch Schacht genannt, an. Zu den fünf größten Schächten gehören in Deutschland beispielsweise die Rolandsbrüder und die Freien Voigtländer. Sie nehmen Gesellen verschiedener Handwerksberufe auf, bieten Unterstützung und weisen die Gesellen in den Ablauf und die Regeln der Walz ein. Je nach Handwerk können sich die Vorgaben unterscheiden. Wer auf Walz gehen will, muss meist
- die Gesellenprüfung bestanden haben
- ledig und kinderlos sein
- unter 30 Jahre alt sein
- keine Vorstrafen und Schulden haben
- in der Öffentlichkeit Zunftkleidung tragen
- das erlaubte, wenige Hab und Gut in einem Stofftuch tragen
- keinen Schmuck außer einen goldenen Ohrring anlegen
- zu Fuß oder per Anhalter reisen
- drei Jahre und einen Tag auf Wanderschaft sein und dabei
- nie mehr als 50/60 km an den Heimatort herankommen
- ohne Geld starten und sich den Lebensunterhalt unterwegs verdienen
Ehrlichkeit, Ehrbarkeit und Achtung vor den Mitmenschen sind ebenfalls von Bedeutung, denn während der Wanderschaft sind die Gesellen auf die Gastfreundschaft anderer angewiesen. Ziel und Dauer der Reise hängen von den Gesellen selbst, dem Wetter oder davon ab, wie schnell sie vorankommen. Flugreisen in andere Länder sind erlaubt. Zu Beginn wird ein Neuling von einem erfahrenen Wandergesellen abgeholt und in den ersten Monaten begleitet.
Sobald die Gesellen in eine neue Stadt kommen, müssen sie – so will es das Ritual – beim Bürgermeister vorsprechen. Erst dann dürfen sie sich Arbeit bei einem örtlichen Handwerksbetrieb suchen. „Von unseren Gesellen war noch nie jemand auf Walz, aber wir hatten schon mehrmals Wandergesellen bei uns zu Gast. Auch wenn sie nicht bei uns gearbeitet haben, mein Vater hat sie stets zum Essen eingeladen und Geld für unterwegs gegeben. Wenn ich auf der Straße einen Handwerksbruder sehe, halte ich an. Es ist großartig, dass Gesellen an der Tradition festhalten und die ungewöhnliche Reise wagen“, erzählt Dachdeckermeister Dirk Marske.
Auch wenn sich die Arbeitsweisen nicht mehr so gravierend voneinander unterscheiden wie einst, ist die Walz auch heute lehrreich. Neben vielen Menschen, Kollegen, Städten und vielleicht sogar Ländern, lehrt die Walz Ausdauer, Bescheidenheit, Geduld und Fleiß. In der heutigen Zeit so minimalistisch zu leben, zu entschleunigen und Entbehrungen zu akzeptieren, ohne zu wissen, was der nächste Tag bereithält und dabei eine uralte Tradition aufrechtzuerhalten ist etwas ganz Besonderes – so besonders, dass die Walz seit 2015 zum UNESCO Kulturerbe zählt.
Der goldene Ohrring, den viele Gesellen traditionell tragen, sollte einst übrigens als Notgroschen dienen. Brach der Geselle allerdings die Regeln der Walz und verhielt sich unehrenhaft, konnte ihm der Handwerksmeister zur Bestrafung den Ring herausreißen. Das dabei entstehende „Schlitzohr“ ist heute noch vielen als Bezeichnung für listige Menschen bekannt.